135
2. Der Mensch ward Richter. „Noch ein Wort," rief ihm der majestä-
tische Löwe zu, „bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch,
wirst du unsern Wert bestimmen?"
„Nach welcher Regel? Nach dem Grade ohne Zweifel," antwortete
der Mensch, „in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid."
„Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. „Wie weit würde ich als-
dann unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht
sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!"
3. Der Mensch entfernte sich. „Nun," sprach der höhnische Maulwurf,
und ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder bei, „siehst du, Pferd,
der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann!
Der Löwe denkt wie wir."
„Aber aus bessern Gründen als ihr!" sagte der Löwe und warf ihnen
einen verächtlichen Blick zu
4. Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es recht über-
lege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder
für den Geringsten, es gilt mir gleich viel. Genug, ich kenne mich!" Und
so ging er aus der Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär,
der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz alle, die ihren Wert fühlten oder
zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung
am meisten murrten, waren — der Affe und der Esel.
Gotthold Ephraim Lessing.
107. Der Wolf auf dem Totenbette.
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden
Blick auf sein vergangenes Leben zurück. „Ich bin freilich ein Sünder"
sagte er, „aber doch, ich hoffe, keiner von den größten. Ich habe Böses
getan, aber auch viel Gutes. Einsmals, erinnere ich mich, kam mir ein
blökendes Lamm, das sich von der Herde verirrt hatte, so nahe, daß ich
es gar leicht hätte würgen können, und ich tat ihm nichts. Zu eben
dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen eines Schafes
mit der bewunderungswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine
schützenden Hunde zu fürchten hatte."
„Und das alles kann ich dir bezeugen," fiel ihm Freund Fuchs,
der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. „Denn ich erinnere mich
noch gar wohl an die Umstände dabei. Es war zu eben der Zeit, als
du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige
Kranich hernach aus dem Schlunde zog."
Gotthold Ephraim Lessing.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T84: [Vogel Tier Eier Fisch Mensch Hund Nahrung Thiere Insekt Art], T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod]]
TM Hauptwörter (200): [T195: [Pferd Tier Hund Schaf Löwe Wolf Rind Mensch Schwein Thiere], T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind], T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T179: [Gott Mensch Wort Welt Erde Glaube Herr Sünde Himmel Satz], T102: [Glocke Stimme Wort Hand Auge Ohr Kirche Ton Fenster Herr]]
132
„Ja,“ sagte die Wachtel, „nun ist’s an der Zeit;
macht schnell euch, ihr Kinder, zum Abzug bereit!
Wer Nachbarn und Vettern die Arbeit vertraut,
dem wird nur ein Schloß in die Luft gebaut;
doch unter dem Streben der eigenen Hand
erblüht ihm des Werkes vollendeter Stand.“
Die Wachtel entfloh mit den Kleinen geschwind,
und über die Stoppeln ging tags drauf der Wind.
Ernst Langbein.
101. Gesellschaft mit dem Löwen.
Es gesellten sich ein Rind, eine Ziege und ein Schaf zum
Löwen und zogen miteinander auf die Jagd in einen Forst. Als
sie nun einen Hirsch gefangen und in vier Teile gleich geteilet
hatten, sprach der Löwe: „Ihr wisset, daß ein Teil mein ist als
eures Gesellen; das andere gebühret mir als einem Könige unter
den Tieren; das dritte will ich haben darum, daß ich stärker bin
und mehr darnach gelaufen und gearbeitet habe denn ihr alle
drei; wer aber das vierte haben will, der muß mir’s mit Gewalt
nehmen.“ Also mußten die drei für ihre Mühe das Nachsehen
und den Schaden zum Lohne haben. Martin Luther.
102. Line Begegnung.
Der Hochmut ging eines schönen Tages spazieren. Tr trug eine
Jerone aus Seifenblasen auf dem T^opf, und sie schillerten bunt und
prächtig im Sonnenschein. An seinem purpurfarbigen Gewände hingen
zahllose, vergoldete Glaskugeln; die Plattfüße hatte er in Schuhe mit
ungeheuern packen gesteckt und schritt auf ihnen so majestätisch einher
wie ein hölzerner J^önig in der Puppenkomödie. Sein breites Gesicht
strahlte von Selbstzufriedenheit, seine roten, fingerdicken Lippen waren
verächtlich verzogen; aus halbgeschlossenen Lidern blickte er um sich, als
ob nichts da wäre, der Mühe wert, ihm einen ganzen Blick zu gönnen.
Da kam ein Wesen ihm entgegen, bei dessen Erscheinen er stutzte.
Ein Wesen von schlichtem Aussehen; bescheiden sein Gang, seine Haltung,
seine Gebärde; schön sein Angesicht, aus dem ein edler Ernst und tief-
innerlichster Frieden sich malten.
„Weiche mir aus!" rief der Hochmut ihm zu.
„Gern," erwiderte der andre lächelnd und gab Baum.
Dennoch fühlte der Hochmut sich verletzt: „Du lächelst? Wie darfst
du es wagen, zu lächeln in meiner Gegenwart?" schnaubte er und warf
sich wütend auf den Beleidiger.
TM Hauptwörter (50): [T5: [Haus Tag Kind Hand Herr Tisch Mann Fenster Wagen Pferd], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T16: [Auge Kopf Körper Hand Haar Fuß Gesicht Blut Haut Brust]]
TM Hauptwörter (100): [T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T1: [König Held Herz Mann Volk Siegfried Land Lied Hand Tod], T75: [Haar Auge Kopf Hand Gesicht Mann Farbe Mantel Fuß Frau], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele]]
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Extrahierte Personennamen: Ernst_Langbein Ernst Martin_Luther Ernst
133
Dieser wehrte ihn nicht ab, regte sich nicht einmal, stand nur ruhig
und fest. Der Hochmut aber stürzte zur Erde, und alle seine Seifen-
blasen zerplatzten, und alle seine Glaskugeln lagen in Scherben — er
war an das Verdienst angerannt. Marie v. Ebner-Eschen dach.
103. Guter Rat.
Ein Marder fraß die Hühner gern,
doch wußt' er nicht, wie sie erhaschen;
er fragt den Fuchs, 'nen alten Herrn,
dem Steifheit schon verbot das Naschen.
Der sagt ihm: „Freund, der Rat ist alt,
was hilft zu zögern? brauch Gewalt!"
Der Marder stürmt in vollem Lauf,
die Hühner aber flattern auf,
die einen gackernd, kreischend jene,
gerade in des Fuchses Zähne,
der gegenüber lauernd lag
und mühlos hielt den Erntetag.
Wenn du nach Hühnern lüstern bist,
frag keinen, der sie selbst gern frißt!
Franz Grillparzer.
104. Zeus und das Schaf.
Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor
Zeus und bat, sein Elend zu mindern. Zeus schien willig und sprach zu
dem Schafe: ,^Jch sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich allzu
wehrlos erschaffen Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen
soll! Soll ich deinen Mlind mit schrecklichen Zähnen und deine Füße mit
Krallen rüsten?" „O nein," sagte das Schaf; „ich will nichts mit den
reißenden Tieren gemein haben." „Oder", fuhr Zeus fort, „soll ich Gift
in deinen Speichel legen?" „Ach," versetzte das Schaf, „die giftigen
Schlangen werden ja so sehr gehaffet!" — „Nun, was soll ich denn? Ich
will Hörner auf deine Stirn pflanzen und Stärke deinem Nacken geben." —
„Auch nicht, gütiger Vater, ich könnte so leicht stößig werden wie der
Bock." — „Und gleichwohl," sprach Zeus, „mußt du selbst schaden können,
wenn sich andere, dir zu schaden, hüten sollen." — „Müßt' ich das?" seufzte
das Schaf. „O, so laß mich, gütiger Vater, wie ich bin! Denn das Ver-
mögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen,
und es ist besser, unrecht leiden als unrecht tun." Zeus segnete das
fromme Schaf, und es vergaß von Stund' an zu klagen.
Gotthold Ephraim Lessing.
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser]]
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Extrahierte Personennamen: Franz_Grillparzer Franz Zeus Zeus Gotthold_Ephraim_Lessing
220
155* Schutzfarbe und Schutzform in der Natur.
1. Wo immer wir lebende Wesen betrachten, da stoßen wir auf
eine höchst auffällige Tatsache. Mit einem kurzen und sehr treffenden
Wort bezeichnet man sie als Anpassung. Besonders im Tierreich kann
sofort jedem Kinde schon eine Fülle der Dinge, die man darunter
versteht, klar gemacht werden Überall zeigt sich, daß Tiere genau
dieselbe Farbe haben wie der Ort, auf dem sie gewöhnlich leben. Sie
sind in ihrer Farbe ihrem Aufenthaltsort „angepaßt". Hier steht ein
Baum. Die Blätter dieses Baumes sind grün. Auf diesen grünen
Blättern leben eine ganze Anzahl kleinerer Tiere — und es ist wirklich
in jedem Betracht auffällig, wie auch unter diesen die grüne Farbe
vorherrscht. Da sitzt ein Laubfrosch. Er ist ganz genau so grün wie
das Blatt, auf dem er sitzt, und man muß schon recht scharf hin-
schauen, um den grünen Kerl überhaupt auf der griinen Unterlage zu
erkennen. Auf demselben Baume nagt aber an einem andern Blatt
eine fette Raupe, und die ist ebenfalls grasgrün. Und nicht weit davon
kriecht eine Blattwanze, wie sie grüner gar nicht gedacht werden kann.
Im grünen Grase unter dem Baume hüpfen grasgrüne Heuschrecken
Ein glänzend grüner Laufkäfer drängt sich zwischen die grünen Halme.
In der Nähe fließt ein Wasser, umsäumt von grünem Schilf. Dort
ist das Versteck grüner Teichfrösche. Eine alte Blauer, mit Moos
bewachsen, liegt dahinter Über das grüne Moos huschen grüne Eidechsen.
Jeder dieser Fälle ist eine wunderschöne Anpassung, hier an Grün
Anderswo ist eine andere Farbe die herrschende: Auf braunen Stoppeln,
braunen Ackerfurchen, gelbbraunem Sande ist das Kaninchen braun,
der Hase braun, das Rebhuhn braun, die Lerche braun, der Sandkäfer
braun. Rotbraun zwischen rotbraunen Baumstämmen des Waldes ist
der Fuchs, der Edelhirsch, das Reh, das Eichhörnchen. Im hohen Norden,
wo immer blendend weißer Schnee liegt, lebt der schneeweiße Eisbär,
der weiße Schneehase, die weiße Möwe, die weiße Schneeeule. Bei
uns zu Lande wird das Hermelin, das im Sommer braunrot ist,
weiß, sobald der Winter mit seinem Schnee kommt. Geht man nach
Süden, in die Wüste Afrikas, wo der Boden fast gelb ist, so sind
auf einmal alle Tiere gelb: gelb der Löwe, gelb die Heuschrecken, gelb der
Skorpion, gelb die Schlangen, gelbbraun das Kamel. Im tropischen
Urwald mit seinen prächtigen, goldgrünen Blättern und bunten Blüten
hausen die herrlichen Papageien, teils ebenso schön grün, teils wetteifernd
mit den Blumen in der grellsten Buntheit. Zu Tausenden drängen sich
die Beispiele überall.
Ich habe jetzt bloß von der Farbe gesprochen. Ganz Ähnliches gilt
Iii. Fabeln.
96. Der Wolf und der Schäfer.
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze
Herde verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, seine Kondolenz
abzustatten.
„Schäfer,“ sprach er, „ist es wahr, daß dich ein so grausames
Unglück betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen?
Die liebe, fromme, fette Herde! Du dauerst mich, und ich möchte
blutige Tränen weinen.“
„Habe Dank, Meister Isegrim!“ versetzte der Schäfer. „Ich
sehe, du hast ein sehr mitleidiges Herz.“
„Das hat er auch wirklich,“ fügte des Schäfers Hylax hinzu,
„sooft er unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet.“
Qotthold Ephraim Lessing.
97. Vom Raben und Fuchse.
Ein Rabe Hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen Baum
und wollte zehren. Da er aber seiner Art nach nicht schweigen kann,
wenn er ißt, hörte ihn ein Fuchs über dem Käse kecken und lief zu und
sprach: „O Rab', nun hab' ich mein Lebtag nicht einen schöneren Vogel
gesehen von Federn und Gestalt, denn du bist. Und wenn du auch eine
so schöne Stimme hättest, zu singen, so sollte man dich zum Könige krönen
über alle Vögel."
Den Raben kitzelte solch Lob und Schmeicheln, fing an und wollte
seinen schönen Gesang hören lassen. Als er aber den Schnabel auftat,
entfiel ihm der Käse. Den nahm der Fuchs behend, fraß ihn und lachte
des törichten Raben. Martin Luther.
98. Die Zonne und die Tiere.
„£> Sonne, scheine nicht so heiß!
Ich muß vor Mattigkeit und Schweiß
bei meiner Arbeit fast erliegen."
So rief der Ssel.
Dietleins Deunches Lesebuch Ausg. D. Teil Iii s. Aufl.
9
TM Hauptwörter (50): [T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand]]
TM Hauptwörter (100): [T94: [Herr Tag Haus Kind Brot Geld Leute Mensch Hund Mann], T84: [Vogel Tier Eier Fisch Mensch Hund Nahrung Thiere Insekt Art], T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T66: [Geschichte Iii Vgl Nr. Aufl Gesch Lesebuch Bild fig deutsch]]
TM Hauptwörter (200): [T42: [Vogel Nest Junge Eier Schnabel Storch Taube Flügel Fuchs Frosch], T195: [Pferd Tier Hund Schaf Löwe Wolf Rind Mensch Schwein Thiere], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T152: [Auge Haar Gesicht Nase Krankheit Körper Mensch Mund Ohr Kopf], T29: [Geschichte Geographie Nr. Erdkunde Lesebuch Bild Iii allgemein Lehrbuch deutsch]]
134
106. Zrus und das Pferd.
„Vater der Tiere und Menschen," so sprach das Pferd und nahte
sich dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe,
womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heißt es mich glauben.
Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiedenes an mir zu bessern sein?"
„Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede, ich
nehme Lehre an!" sprach der gute Gott und lächelte
„Vielleicht," sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn
meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals
würde mich nicht entstellen; eine breitere Brust würde meine Stärke ver-
mehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den
Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl ein Sattel anerschaffen sein,
den mir der wohltätige Reiter auferlegt."
„Gut," versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblick!" Zeus, mit
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den
Staub, und plötzlich stand vor dem Throne — das häßliche Kamel.
Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.
,Hier sind höhere und schmächtigere Beine," sprach Zeus; „hier ist
ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der aner-
schaffene Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll?"
Das Pferd zitierte noch.
„Geh," fuhr Zeus fort, „dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu
werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu er-
innern, so daure du fort, neues Geschöpf," — Zeus warf einen erhaltenden
Blick auf das Kamel — „und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern."
Gotthold Ephraim Lessing.
106. Drr Rangstreit der Tiere.
1. Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu
schlichten, sprach das Pferd: fasset uns den Menschen zu Rate ziehend-
er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein."
„Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maulwurf hören
„Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckten Vollkommen-
heiten zu erkennen."
„Das war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster.
jawohl!" rief auch der Igel. „Ich glaub' es nimmermehr, daß der
Mensch Scharfsichtigkeil genug besitzt."
„Schweigt ihr!" befahl das Pferd. „Wir wissen es schon: wer sich auf
die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten,
die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen"
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T16: [Auge Kopf Körper Hand Haar Fuß Gesicht Blut Haut Brust], T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser]]
TM Hauptwörter (100): [T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T82: [Hand Pferd Schwert Fuß Schild Kopf Waffe Lanze Ritter Mann], T75: [Haar Auge Kopf Hand Gesicht Mann Farbe Mantel Fuß Frau], T84: [Vogel Tier Eier Fisch Mensch Hund Nahrung Thiere Insekt Art]]
TM Hauptwörter (200): [T195: [Pferd Tier Hund Schaf Löwe Wolf Rind Mensch Schwein Thiere], T152: [Auge Haar Gesicht Nase Krankheit Körper Mensch Mund Ohr Kopf], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze], T179: [Gott Mensch Wort Welt Erde Glaube Herr Sünde Himmel Satz], T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen]]
Extrahierte Personennamen: Zeus Zeus Zeus Gotthold_Ephraim_Lessing
412
durch die ganze Bahn; dieser schwingt sich über die Schranke, welche unter
dem Stoß der Hörner des Stieres erbebt. Wie verdutzt steht der nun
da, nachdem sein Gegner verschwunden ist.
2. Alsbald stellt sich ihm ein zweiter Pikador dar, welcher dasselbe
Schicksal hat wie sein Vorgänger. Ehe noch die Chulos zu Hilft kommen
können, versetzt der Stier dem an der Erde zappelnden Pferde einen
zweiten Stoß und trägt es hoch empor durch die halbe Bahn. Dem
dritten Pferd riß der Stier im Nu den ganzen Leib auf, so daß das
unglückliche Tier in seine Gedärme trat. Und in diesem Zustande wurde
es durch Sporen und Schläge angetrieben und mußte noch einen zweiten
Angriff der wilden Bestie aushalten. Natürlich erhielt der Stier jedes-
mal einen furchtbaren Stoß von der spitzen Lanze in die linke Schulter,
er verweigerte den ferneren Angriff der Reiter, und nun mußten die
Banderillos heran. Dies sind Fußgänger, die in jeder Hand einen
sechs Dezimeter langen Pfeil tragen, dessen Spitze mit Widerhaken ver-
sehen ist, und welcher am entgegengesetzten Ende Fähnchen, Rauschgold
und selbst kleine Vogelbauer hat, aus denen die Vögel, mit bunten Bän-
dern geziert, entfliehen. Mit diesen Pfeilen gehen sie geradeswegs auf
den Stier los. In demselben Augenblick, wo dieser ausholt, springen
sie seitwärts und stoßen ihm ihre Pfeile zwischen Ohren und Hörnern
ins Genick. Jetzt wird das Tier vollends rasend und toll. Oft treibt es
eine ganze Schar von flüchtigen Chulos über die Schranke, wobei sie
laut verhöhnt werden. Einmal saß der Stier selbst quer auf dem oberen
Rande dieses Bollwerks, und es kommt zuweilen vor, daß er hinüberge-
langt. Einer der Chulos hatte die Keckheit, den farbigen Mantel um-
zuhängen, so daß der Angriff des Stieres nun direkt auf ihn gerichtet
war. In dem Moment, wo jener den Kopf senkte und mit geschlossenen
Augen vorstürzte, sprang er über ihn fort und kam neben ihm zu stehen.
Wenn nun endlich die Wut des Tieres aufs höchste gesteigert, seine
Kraft aber schon im Schwinden ist, so tritt der Matador ihm ganz allein
gegenüber. Jetzt entsteht die größte Stille und Aufmerksamkeit; denn
dies Beginnen ist bei weitem das gefährlichste. Der Matador, ein schöner
Mann in Schuhen, weißen Strümpfen, hellblauer, seidener Jacke und Bein-
kleidern, ein Netz über das Haar geflochten, führt in der Linken ein
scharlachrotes Mäntelchen, in der Rechten eine meterlange, vierschneidige
Toledoklinge. Die muß dem Stier an einem ganz bestimmten Punkte in
den Nacken gestoßen werden. Trifft der Degen eine andere Stelle, so
schleudert das Tier ihn wieder heraus oder zersplittert ihn. Um aber den
rechten Punkt zu treffen, handelt es sich um sechs, höchstens acht Zenti-
meter, in welcher Entfernung das Tier an dem Menschen vorbeistoßen
muß. Alles ist darauf berechnet, daß der Stier jedesmal lieber nach dem
TM Hauptwörter (50): [T16: [Auge Kopf Körper Hand Haar Fuß Gesicht Blut Haut Brust]]
433
Waldvögel des gemäßigten Europas. Doch die Natur schenkt
Ersatz, wo solcher vonnöten ist.
Um das Kaspische Meer und an den Ufern der Wolga schleicht
der kleine, gefleckte, mordgierige Wüstenluchs. In den Flüssen
taucht der Otter, und unter dem Gesträuch an den Flußufern
schleicht der Iltis. In den Sandbänken der Flußbetten, im Schutz
der Mandel- und Distelgebüsche, hat der Fuchs seine Baue. Wenn
der Abend dunkelt, schleicht er auf die Steppe hinaus, trabt be-
dächtig dahin, bleibt unbeweglich stehen bei dem Piepsen einer
Steppenmaus, sucht vergeblich den abendlichen Lauten eines halb-
erwachsenen Hasen zu folgen und entdeckt endlich im Röhricht
des Teiches eine unvorsichtige Wildente, die schlaftrunken im
Riedgras ruht.
Doch, was vermag dieses Raubtier gegen den Wolf — den
großen Polizeimeister der Steppei Er verhindert die allzu starke
Zunahme der Tiere, er besorgt das Reinigungswesen im großen
und beseitigt die Kadaver, welche durch die Gewalt des Schnee-
sturmes oder durch die verheerende Rinderpest entstanden sind.
Von seinen unzugänglichen Schlupfwinkeln in den Sümpfen
geht er auf die Jagd nach dem verirrten Steppenpferd, der
schnellen Steppenantilope oder der ruhenden Schafherde. Wenn
der Winter die Steppe in ein weißes Gewand kleidet, wenn Sümpfe
und Flüsse sich mit Eis bedecken, dann legt er sich in dichten Ge-
büschen nieder oder rollt sich auf den niedergetretenen Schilf-
bündeln der Sümpfe zusammen. Stimmt der nächtliche Schnee-
sturm sein Brausen an, so tritt der Wolf hinaus auf die Steppe.
Sein Geheul übertönt das Brausen und wird von anderen Wölfen
beantwortet. Bald ist das Rudel versammelt. Nun traben sie, ein
jeder in den Fußstapfen des andern, über die Steppe hinab nach
dem Flußtale und der Kosakenstanitza. Wehe dem irrenden
Wanderer, wehe der zerstreuten Schafherde des Nomaden oder
dem wachsamen Hund des Kosaken! Die frechen Räuber werfen
sich auf das Opfer, sprengen unerschrocken durch die Gasse des
Kosakendorfes, schleichen dicht in die Nähe des Kirgisenauls und
morden schonungslos, wo Gelegenheit dazu vorhanden ist.
Auf der aussichtsreichen Hochsteppe hält sich die einzige
Antilopenart Europas, das spitzhörnige „Saiga“ mit der gewölbten,
beweglichen Nase auf. In Scharen von zuweilen hundert Tieren
weidet es; wachsam, spähend und schnellfüßig überlistet es oft
den Jäger und seine schnelle Windhundkoppel.
Das „Tarpa“, das kleine, unbändige, wilde Pferd streift in kleinen
atctleins Deutsches Lesebuch. Ausg. v. Teil Hl. 3. Aufl. 28
TM Hauptwörter (50): [T30: [Tier Vogel Mensch Pferd Hund Fisch Thiere Nahrung Eier Wasser], T38: [Boden Wald Land Wiese Wasser Berg Fluß Feld See Dorf], T7: [Erde Luft Sonne Wasser Himmel Berg Tag Licht Wolke Nacht]]
TM Hauptwörter (100): [T84: [Vogel Tier Eier Fisch Mensch Hund Nahrung Thiere Insekt Art], T77: [Baum Nacht Himmel Wald Tag Gott Kind Vogel Sonne Blume], T70: [Boden Teil Land Wald Gebirge Ebene Gebiet See Klima Tiefland], T23: [Stadt Feind Tag Heer Mauer Mann Lager Nacht Kampf Soldat]]
TM Hauptwörter (200): [T195: [Pferd Tier Hund Schaf Löwe Wolf Rind Mensch Schwein Thiere], T42: [Vogel Nest Junge Eier Schnabel Storch Taube Flügel Fuchs Frosch], T89: [Wasser Fluß Quelle Bach See Erde Boden Brunnen Land Ufer], T51: [Kind Himmel Nacht Sonne Tag Gott Wald Baum Blume Feld], T13: [Baum Wald Feld Wiese Garten Gras Winter Mensch Sommer Haus]]